Was soll ich jetzt tun?

Nick Koch

Am Flughafen Bangalore treffe ich auf einen Fremden, dessen Lebensgeschichte und Weisheit meine Sicht auf den Lebenszweck verändert. Ein zufälliges Gespräch, das sich als prägendste Begegnung meiner Reise entpuppt.

Fotos: Nick Koch

Was soll ich jetzt tun?

Nick Koch

Am Flughafen Bangalore treffe ich auf einen Fremden, dessen Lebensgeschichte und Weisheit meine Sicht auf den Lebenszweck verändert. Ein zufälliges Gespräch, das sich als prägendste Begegnung meiner Reise entpuppt.

FLUGHAFEN ANGALORE, INDIEN – Ich saß in der Nähe meines Gates, wie immer viel zu früh, und vertrieb mir die Zeit mit Japanisch lernen. Während ich konzentriert die verschiedenen Hiragana-Zeichen auf mein Papier kritzelte, setzte sich ein korpulenter Mann mittleren Alters im Anzug neben mich und klappte seinen Laptop auf. Er wirkte unauffällig.

Zunächst waren wir beide in unsere eigenen Dinge vertieft, bis der Mann seinen Laptop zuklappte, mich neugierig ansah und fragte: „Was machst du da?“ Damals wusste ich nicht, dass ich gerade den weisesten Menschen meiner langen Reise getroffen hatte – seine Weisheit und die Magie dieser Begegnung begleiten mich bis heute.

„Ich lerne Japanisch“, sagte ich. „Ich möchte Englischlehrer in Japan werden.“ Ich wusste nicht, warum ich mich diesem Fremden gegenüber so offen zeigte, aber irgendetwas in mir wollte ihm dies mitteilen. Er lächelte, offenbar von meiner Persönlichkeit angetan. „Ah, es sah für mich aus wie Chinesisch“, sagte er und streckte mir die Hand entgegen: „Hi, mein Name ist Piyush.“

Ich schüttelte seine große Hand. „Nick“, sagte ich, „freut mich, dich kennenzulernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte er mit einem gewitzten Lächeln. „Also Nick, erzähl mir, wie du hier am Flughafen Bangalore gelandet bist, quer durch Indien gereist bist und nun beschlossen hast, Englischlehrer in Japan zu werden.“ Ich sah ihm in die Augen, auf der Suche nach versteckten Absichten. Einige schlechte Erfahrungen in meinem Monat in Indien hatten mich vorsichtig gemacht. Doch in seinen Augen sah ich nur einen scharfen Verstand und viel Lebenserfahrung. Also ließ ich meine Vorsicht fallen und erzählte ihm meine Geschichte.

Taiwan | Flughafen Taiwan Taoyuan

OBEN: Reflektieren am Flughafen. Etwas, das ich stets auf Reisen tue. 

Ich erklärte ihm, dass ich ein Sabbatjahr genommen hatte, eine Auszeit vom Polizeidienst, um die Welt zu bereisen. Durch bedeutsame Gespräche mit außergewöhnlichen Menschen, Lebensereignisse und viel Reflektieren auf meinen Reisen hatte ich mich entschieden, die Polizei zu verlassen und meine Kündigung eingereicht. Gleichzeitig hatte ich ein Working-Holiday-Visum für Neuseeland beantragt und genehmigt bekommen, doch die Polizei ließ mich nicht so leicht gehen. Also beschloss ich, die restlichen drei Monate meiner Reise in Osteuropa und Indien zu verbringen.

In Bosnien hatte mir ein japanischer Reisender erzählt, dass ich auch ein Arbeitsvisum für Japan beantragen könnte. Da ich immer schon eine längere Zeit in Japan verbringen wollte, stand für mich fest: Erst ein Jahr in Neuseeland, dann ein Jahr in Japan. So landete ich an diesem Flughafen, um Japanisch zu lernen.

Piyush hörte aufmerksam zu und nickte gelegentlich. Als ich fertig war, sagte er nur: „Das ist genau das, was du jetzt tun sollst.“ (Original: „That is what you are supposed to do now.“)  Ich war etwas verwirrt und musste wohl auch so ausgesehen haben. Er lächelte nur wieder, als wüsste er etwas, das ich noch nicht wusste.

Offenbar hatte er ebenfalls Lust auf ein Gespräch, also fragte ich Piyush nach seinem Leben. Er erzählte mir seine Geschichte, und doch spürte ich eine gewisse mystische Aura, während er sprach.

Aufgewachsen in einer indischen Familie, die in Portugal lebte, hatte er keine einfache Kindheit. Seine herausfordernde Vergangenheit führte ihn zu einer Suche nach Antworten und Wahrheit. Antworten auf die existenziellen Fragen des Lebens: Wer war er? Was sollte er tun? Was war der Sinn des Lebens? Ich konnte das gut nachvollziehen.

So zog er in jungen Jahren los, um die Welt zu bereisen und Antworten zu finden – Antworten, denen sich die meisten Menschen nie stellen wollen. Sein Weg führte ihn in alle Weltreligionen. Wirklich in alle: Das Judentum war die Religion seiner Mutter, den Islam lernte er in Saudi-Arabien kennen, den Buddhismus in China, das Christentum in Portugal und schließlich den Hinduismus, als er beschloss, nach Indien zurückzukehren.

Er bewies mir seine Erzählungen, die ich anfangs zugegeben schwer zu glauben fand. Er zeigte mir alte Fotos auf seinem Handy und Laptop: Bilder seines jüngeren Ichs, wie er durch arabische Länder reist, mit kahlgeschorenem Kopf in den orangenen Roben eines buddhistischen Mönchs oder mit zwei alten Yogis in der hinduistischen Stadt Vrindavan.

Obwohl ihm das Studium der Weltreligionen einige Antworten gab, die er suchte, fand er darin nicht den Kern der Wahrheit. Also suchte er in anderen Bereichen. Nachdem er in China ein erfolgreiches Unternehmen gegründet hatte, nutzte er sein Vermögen, um eine Stiftung zu gründen, die den Armen und Bedürftigen half. Er zeigte mir Bilder von bedürftigen Menschen, die in Mumbai Essen erhielten, und von streunenden Hunden und Katzen, die in Goa dasselbe bekamen. Doch auch hier erkannte er, dass es letztlich ein Akt des Egos war, der Selbstbestätigung diente. Auch hier fand er nicht den Kern der Wahrheit.

Indien | Hampi

OBEN: Die Ruinen vom Shri Achyutaraaya Swamy Tempel in Hampi. Der Grund, warum ich mich damals dort in der Region aufhielt.

Er verstummte kurz und schaute gedankenverloren aus dem Fenster, das Treiben auf dem Rollfeld betrachtend. Für mich war seine Geschichte viel zu verarbeiten. Ich hatte immer gewusst, dass die Weltreligionen mich nicht zu Erfüllung führen würden. Aber ich hatte geglaubt, dass selbstloses Handeln der Weg sei, um Frieden mit dem Leben zu finden. War es das nicht?

„Komm“, sagte er schließlich, „lass uns etwas essen. Ich lade dich ein.“ Trotz meines Protests setzten wir uns ins KFC im Terminal. Glücklicherweise gibt es bei KFC in Indien vegetarische Optionen. Ironischerweise war auch Piyush Vegetarier. „China“, erklärte er. „Als ich dort lebte, sah ich, was sie beim Hundefleisch-Festival machen. Glaub mir, wenn man Straßenhunde lebendig in kochendes Öl geworfen sieht, wird jeder Vegetarier.“ Plötzlich schmeckte mir mein vegetarischer Burger nicht mehr so gut.

Immer noch unsicher, ob wirklich selbstloses Handeln den Lebenszweck darstellt, fragte ich Piyush, was die wichtigste Lebenslektion war, die er auf seiner Reise gelernt hatte. Er sah mich mit seinem verschmitzten Lächeln an und sagte: „Wann immer du daran denkst, stell dir die Frage: Was soll ich jetzt tun?“ Dann aß er weiter.

Ich saß da und versuchte herauszufinden, was das bedeutete. Heißt es, immer im Moment zu bleiben? Diese Lektion hatte ich bereits gelernt: Immer im Jetzt zu bleiben, denn die Vergangenheit kann man nicht ändern, und die Zukunft ist noch ungeschrieben – das Jetzt ist alles, was wir haben und wo wir Frieden finden können. Eckhart Tolles Lehre in ihrer Essenz.

Indien | Hampi | Südlicher Hanuman-Langur

OBEN: Ein südlicher Hanuman-Langur im Virupashka-Tempel von Hampi.

Zurück am Gate, in tiefer Nachdenklichkeit, verspürte ich das Bedürfnis, Piyush zu erzählen, dass ich nach einem sinnvollen Lebenszweck suchte, einer bedeutungsvollen Aufgabe. Ich sprach mein Dilemma aus. Wieder dieses verschmitzte Lächeln. „Es ist ganz einfach“, sagte er. „Frag dich: Was soll ich jetzt tun?“ Da machte es bei mir Klick!

„Also bedeutet das“, sagte ich langsam, „mich selbst diese Frage zu stellen und die Antwort voller Präsenz und Hingabe umzusetzen – das ist mein Lebenszweck und der Sinn des Lebens.“ Piyush nickte und sagte dann etwas, das ich nie vergessen werde:

„Das ist richtig“, sagte er. „Das Leben wird dir mehr als einen Lebenszweck geben. Und diese Lebenszwecke enden in Zyklen. Du wirst merken, dass ein Zyklus endet, wenn du dir diese Frage stellst und sich die Antwort langsam ändert. Dann ist die neue Antwort das, was du tun sollst.

Doch es gibt noch mehr: Das Universum ist unendlich, und alles darin ist miteinander verbunden. Du weißt nicht, was das Universum plant und wie sich die Verbindungen ausspielen werden. Und du weißt nicht, wie das, was du jetzt tust, Menschen und anderen Lebewesen in der Zukunft helfen wird.

Wenn du jetzt zum Beispiel Japanisch lernst, mit voller Präsenz und Hingabe, wirst du vielleicht einigen Kindern in Japan helfen. Vielleicht gehen diese Kinder später ihre eigenen Wege, weil du ihnen Englisch beigebracht hast.

Und vielleicht findest du dadurch deinen nächsten Lebenszweck, indem du durch diesen Akt jemandem auf eine ganz besondere Weise hilfst.

Wichtig ist, sich diese Frage jeden Tag zu stellen und die Antwort mit voller Präsenz und Hingabe zu leben. Das ist deine Aufgabe.“

Ich war überwältigt und schwieg. Ein tiefes Gefühl von Freude, Einsicht und Verständnis erfüllte mich.

Danach unterhielten wir uns noch etwas oberflächlicher. Wir stellten fest, dass wir beide „Cobra Kai“ liebten, und ich erzählte ihm, dass an diesem Tag die neueste Staffel herausgekommen war. „Was für ein Zufall“, sagte er lächelnd, „jetzt muss ich meiner Frau und meinen Kindern erklären, dass das meine Aufgabe ist, sobald ich zu Hause ankomme.“ Wir lachten.

„Ich muss jetzt einsteigen, Nick.“ Er stand auf, und wir umarmten uns. „Wahrscheinlich werden wir uns nicht wiedersehen, aber ich habe dieses Gespräch sehr genossen.“ Ich bedankte mich von Herzen bei Piyush. Er lehnte meinen Dank ab und sagte stattdessen: „Das war das, was ich heute Abend tun sollte.“ Ein verschmitztes Lächeln, und ohne sich umzudrehen, stellte er sich am Gate an.

So ging er, und ich hatte den bedeutsamsten Rat meines Lebens erhalten – am Flughafen Bangalore, vier Stunden zu früh, während ich Japanisch lernte und offen war für das Gespräch mit einem unauffälligen Fremden. Das war damals das, was ich tun sollte.

Indien | Agra | Taj Mahal