WAITAKERE RANGES, AOTEAROA – Es war 09:00 Uhr morgens, und die frische Luft Neuseelands fing langsam an, mir auf die Nerven zu gehen. Hände in den Taschen, noch halb verschlafen, starrte ich auf das Geschehen vor mir im dichten Grün. „Van Life“, dachte ich und schüttelte innerlich den Kopf, „definitiv eine Erfahrung.“
Ich blickte zu meinem Freund Moises hinüber. Er sah genauso erschöpft aus wie ich: am Rande des Zusammenbruchs und bereit, diesen Wahnsinn sofort zu beenden. Das Problem war, dass wir nicht konnten. Denn gerade wurde unser Honda-Kombi von einem Bagger, gelenkt vom örtlichen Park Ranger, und einem Traktor, gesteuert vom Golfplatzleiter, aus dem Busch gezogen.
Moises bemerkte meinen Blick. In seinen erschöpften Augen blitzte kurz Leben auf, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Van Life“, rief er über das Geräusch der röhrenden Motoren, seine Stimme voll Ironie. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Van Life“, schrie ich zurück und spürte dabei so etwas wie Belustigung in mir aufsteigen.
„Van Life.“ Diese zwei Worte hatten in nur elf Tagen eine völlig neue Bedeutung für mich bekommen und mich durch ein Wechselbad der Gefühle geführt. Endstation: eine, mit der ich nicht gerechnet hatte.
Aotearoa| Manawatu-Whanganui
OBEN: Schafe irgendwo in der Nähe des Whanganui-Nationalparks. Ständige Begleiter auf unserem Trip durch die Nordinsel.
Alles begann zwei Wochen zuvor in Wellington. Ich bereiste die Nordinsel auf meine übliche Art: Rucksack und Hostelbett. In der Hostelküche traf ich zufällig auf Moises und seinen Freund. Moises, ein Mexikaner, und sein Freund aus Spanien schienen mir gute Reisegefährten zu sein, und ich sah die Gelegenheit, mein Spanisch zu üben. Zu meiner Überraschung antwortete Moises auf mein gebrochenes Spanisch mit perfektem Deutsch.
Im Gespräch erzählte Moises, dass er das Auto seines Freundes für eine längere Zeit ausgeliehen hatte und nun jemanden suchte, der sich die Reisekosten mit ihm teilen würde, um die Nordinsel zu erkunden. Da ich sowieso in die gleiche Richtung unterwegs war, brauchte ich nur ein paar Sekunden, um zu sagen: „Los geht’s!“
Ich stornierte alle Buchungen, und drei Tage später machten Moises und ich uns auf den Weg nach Whanganui.
Für uns beide war es das erste Mal „Van Life“. Wir hatten eine aufblasbare Matratze im Kofferraum, auf die wir beim Fahren all unser Zeug warfen. Es sah chaotisch aus, aber das war uns egal. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, das Gefühl von Freiheit in Neuseeland zu genießen und zu amerikanischen Hits der 60er und spanischen Pop-Songs mit schiefen Tönen mitzusingen. Wir fühlten uns frei und voller Vorfreude.
Doch die Realität dieses Lebensstils holte uns bereits am ersten Tag ein.
Der Winter nahte, und nach einem regnerischen Tag voller Besichtigungen fanden wir uns auf einem zweifelhaften Parkplatz irgendwo in New Plymouth wieder, unserem Übernachtungsplatz. Es wirkte weniger romantisch, als wir es uns vorgestellt hatten. Gegen 18:00 Uhr saßen Moises und ich im stockdunklen Cockpit und aßen unser Abendessen.
„Na ja, das ist wohl Van Life“, sagte ich ins Dunkel, „shady Parkplätze und Cracker mit Hummus.“ Moises kicherte und lehnte sich in der Dunkelheit zurück. Mit einem langen Seufzer fügte er hinzu: „Ahhhh, Van Life.“ Mehr ironische Begeisterung hätte er nicht ausdrücken können. Wir brachen in schallendes Gelächter aus.
Dieser Satz sollte zu unserem Running Gag werden, immer dann, wenn die Realität des Van Life uns einholte. Und das tat sie oft.



OBEN: Unsere Reiseroute und typische Aussichten in Aotearoa.
In Taupo zum Beispiel, als wir das angeblich „coolste“ McDonald’s der Welt besuchten. Uns interessierte das echte Flugzeug im Vorgarten nicht – unser Augenmerk lag einzig auf WLAN und Strom. Als wir nach einer seltsamen Begegnung mit einem veganen Obdachlosen gehen wollten, war die Batterie leer. Wir saßen fest auf dem Parkplatz des „coolsten“ McDonald’s der Welt. „Van Life.“
Ein anderes Mal, nach einer Wanderung im Whanganui Nationalpark, entdeckte ich eine Gottesanbeterin auf dem Armaturenbrett. Als leidenschaftlicher Naturnerd musste ich sie natürlich inspizieren, trotz Moises’ Warnung. Sie sprang auf mich und verschwand dann in den Tiefen unseres Wagens. Wir haben sie nie wieder gesehen – wahrscheinlich irgendwo da unten, zusammen mit der Stabheuschrecke und der gelben Spinne, die ich eines Nachts im Gesicht hatte. „Van Life.“
Ein besonders denkwürdiger Moment ereignete sich in Rotorua. Meine Laune war ohnehin schlecht, weil der Friseur mir einen Inch abgeschnitten hatte, statt wie gewünscht nur einem Zentimeter. Eine unerwünschte Lektion in US-Maßeinheiten, die ich bei jedem Blick in den Spiegel sah. Dazu regnete es seit Tagen ununterbrochen. Moises und ich wollten uns den Luxus eines Campingplatzes gönnen, aber auch der stand unter Wasser.
So stand ich im strömenden Regen, versuchte im Dunkeln das Bett herzurichten, während ich knöcheltief im Schlamm steckte und meine Jeans völlig durchnässt war. Noch schlimmer: Da mein anderes Paar ebenfalls dreckig war, musste ich in meinen durchnässten Jeans schlafen.
Ich erinnere mich genau, wie ich im Schlafsack lag und die Decke des Autos anstarrte. „Das ist nur ein Inch vom Obdachlossein entfernt“, dachte ich. „Van Life.“
Aotearoa| New Chums Beach
OBEN: New Chums Beach auf der Coromandel Peninsula. Der schönste Strand, den ich bisher in Aotearoa gesehen habe.
Zugegeben, vor dieser Reise hatten meine Vorstellungen vom Van Life hauptsächlich aus YouTube-Videos und Instagram-Reels bestanden. Vielleicht war es etwas naiv zu glauben, dass diese bearbeiteten Aufnahmen der Realität entsprachen. Immerhin sieht man dort nur Paare, die durch malerische Landschaften in ihren fancy selbst ausgebauten Vans fahren, mit immerwährender guter Laune.
Natürlich zeigen sie nicht, dass sie tagelang nicht geduscht, immer die selbe Kleidung getragen und das hundertste Mal Cracker mit Hummus gegessen haben. Vermutlich machen diese Details einfach keinen guten Content. Oder vielleicht lag es daran, dass wir mit kleinem Budget reisten. Wie fast jeder Langzeitreisende eben.
Doch ich würde diese Erfahrung gegen nichts eintauschen, denn die Zeit mit Moises war großartig. In ihm habe ich einen Freund fürs Leben gefunden.
Ich schätze unsere Car-Karaoke-Sessions, unsere tiefen Gespräche und die morgendlichen Kaffees in verschiedenen Hipster-Cafés. Zu wissen, dass er den Lebensstil genauso wahrnahm wie ich, beruhigte mich und bestätigte, dass mein Empfinden nicht übertrieben war. Gemeinsam genossen wir die guten Zeiten und überstanden die schlechten – mit zusammengebissenen Zähnen und einer guten Portion Humor.
Und diese Reise lehrte mich noch etwas anderes: Van Life ist nichts für mich. Es passt einfach nicht zu meinem bevorzugten Reisestil.
Diese Erkenntnis kam, als wir am letzten Tag unserer Reise im Waitakere Ranges unser Auto zu Schrott fuhren.
Aotearoa| Tongariro-Nationalpark
OBEN: Mount Ruapehu im Tongariro-Nationalpark. Der größte aktive Vulkan in Aoteraoa ist von kultureller und spiritueller Bedeutung für die indigenen Māori.
Moises und ich kamen am frühen Abend in Auckland an. Alle kostenpflichtigen Campingplätze waren bereits geschlossen, also suchten wir in unserer Camping-App nach einem freien Platz. Ein abgelegener Ort im Westen Aucklands klang vielversprechend.
Es dauerte eine Weile, bis wir den Ort erreicht hatten. Schließlich, nach einer schmalen Schotterstraße, standen wir vor einem riesigen Grasfeld.
Wir stellten fest, dass wir auf einem Golfplatz gelandet waren. Offenbar war die App schon länger nicht mehr aktualisiert worden. Also beschlossen wir, umzukehren.
Moises versuchte, den Wagen rückwärts zurück auf die Schotterstraße zu steuern, aber es war zu dunkel und der Weg zu schmal. „Hm, warum drehst du nicht einfach auf dem Gras?“, schlug ich vor – ein Satz, den ich heute zutiefst bereue.
Moises lenkte vorsichtig auf das Grasfeld und versuchte zu wenden. Doch nach Tagen voller Regen war der Boden zu weich, die Reifen fanden keinen Halt – wir steckten fest im Schlamm.
Mehrmals versuchten wir, aus der Lage herauszukommen, fuhren vor und zurück, doch nichts half. Im Gegenteil: Da wir uns an einem leichten Abhang befanden, rutschte das Auto bei jedem Versuch, sich zu bewegen, nur noch weiter in Richtung Buschland. Schließlich schlidderten wir geradewegs in das dichte Gebüsch.
„Wir müssen einen Abschleppdienst rufen“, sagte Moises, nachdem uns klar wurde, wie ernst die Situation war. „Stimmt“, antwortete ich, während ich auf mein Handy schaute: 14 % Akku und kein Empfang. Wir waren aufgeschmissen.
Völlig frustriert liefen wir über den Golfplatz und versuchten, mit dem Restakku irgendwo ein Signal zu finden. Zum Glück sah uns ein Einheimischer aus der Ferne, erkannte unser Problem und fuhr zur Rangerstation, um den örtlichen Ranger zu informieren. Eine Stunde später kehrte er zurück und sagte uns, dass der Ranger erst am nächsten Morgen kommen könne. So blieb uns nichts anderes übrig, als die Nacht in unserem gestrandeten Auto zu verbringen.
Zeit genug, über die Natur des Van Life nachzudenken.
Aotearoa| Stingray Bay
OBEN: Stingray Bay auf der Coromandel Peninsula. Damals eigentlich wegen Erdrutschen für den öffentlichen Zutritt gesperrt…
Am nächsten Morgen traf der Park Ranger schließlich ein, und gemeinsam mit dem Manager des Golfplatzes, der zur Unterstützung kam, versuchte man uns herauszuziehen. Leider war die Geschichte damit noch nicht vorbei:
Nach einer Weile dröhnender Motorengeräusche rührte sich unser Wagen im Gestrüpp, langsam zogen unsere beiden Helfer ihn aus dem Busch und hinterließen breite Schlammspuren im Gras. Als das Auto genügend Abstand zum Gebüsch hatte, ging ich um den Wagen, um nach Schäden zu schauen.
Moises blickte besorgt zu mir herüber, und ich gab ihm ein Daumen-hoch-Zeichen. „Kein Schaden“, rief ich ihm zu, und er atmete erleichtert auf.
Nachdem der Wagen sicher auf dem Schotterweg stand, entknoteten wir die Abschleppseile und versuchten, den Motor zu starten. Die Batterie war leer. Schon wieder. Ich sparte mir die Aufregung – an diesem Punkt war ich einfach nur erleichtert, dass das Auto keine weiteren Schäden hatte. Zum Glück hatte der Ranger ein Starthilfegerät dabei.
Ein Knopfdruck und ein weiterer Versuch, den Zündschlüssel zu drehen – unser Motor brüllte wieder zum Leben. Eine Welle der Erleichterung überkam mich, und ich stieg aus dem Cockpit, ein müdes Lächeln auf den Lippen. Doch dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Mein Lächeln gefror augenblicklich.
Bisher stand der Golfplatzmanager mit seinem Traktor direkt hinter unserem Auto, bereit, uns herauszuziehen. Er saß immer noch mit laufendem Motor und seinem Hund auf dem Schoß dort, offenbar abwartend, ob jetzt endlich alles in Ordnung war.
Doch anscheinend war er zu sehr damit beschäftigt, seinen Hund zu streicheln. Denn statt rückwärts zu fahren, wie es jeder normale Mensch getan hätte, sah ich ihn plötzlich nach vorne fahren. Die Szene schien sich in Zeitlupe abzuspielen: Langsam, aber stetig fuhr er weiter vorwärts und – mit einem lauten Krachen – rammte er unser Auto von hinten. Ohne ersichtlichen Grund.
„Entschuldigung“, murmelte er und setzte zurück. Zum Vorschein kam der Schaden: Die gesamte Heckklappe war eingedellt. Ich stand da wie versteinert und konnte kaum glauben, was gerade passiert war.
„Nun, ein Abschleppwagen hätte euch auch ein paar hundert Dollar gekostet“, hörte ich den Golfplatzmanager hinter mir sagen. Im Nachhinein bin ich erstaunt, wie ruhig ich geblieben bin. „Schon gut“, sagte ich benommen. Ich sah Moises ein paar Meter entfernt stehen. Auch er blieb äußerlich gefasst, aber an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass seine Welt gerade zusammengebrochen war – immerhin war es das Auto seines Freundes.
Wir bedankten uns bei unseren Rettern und stiegen in unser nun demoliertes Auto, ich am Steuer. Ich wollte einfach nur weg von diesem Ort. „Wohin jetzt?“, fragte Moises völlig erschöpft. „Ich brauche einen Kaffee“, sagte ich. „Klingt gut“, antwortete er.
„Van Life.“
Aotearoa | Tongariro-Nationalpark