AUCKLAND, AOTEAROA – Pause. Ich stand an der Kaffeemaschine und wartete, während ich mich in der modernen Cafeteria umsah. Meine Kollegen in ihren leuchtend gelben Westen waren damit beschäftigt, ihr Mittagessen zu essen. Sie kamen aus verschiedenen Teilen der Welt, die Mehrheit waren jedoch Filipinos. „Woher kommst du?“ fragte mich einer meiner Kollegen. Er war der Nächste in der Schlange.
„Aus Deutschland,“ antwortete ich mit einem Lächeln. Da ich erst seit zwei Wochen in der Werkhalle arbeitete, kannten mich noch nicht alle Kollegen. „Ahhhh, okay.“ Der Kollege deutete mit dem Daumen hinter sich. „Hector hier hat in Deutschland gearbeitet.“ Mein Blick wanderte hinter ihn zu einem kleinen Filipino. Mit seinem grauen Haar und Stoppelbart schätzte ich ihn auf Ende fünfzig. Er trug eine dunkelgrüne Wollmütze und eine Brille. Die Falten um seine Augen verrieten mir, dass er viel lachte.
„Wirklich?“ fragte ich. „Wo hast du gearbeitet?“ Hector schwieg einen Moment, sah mich halblächelnd mit weisen Augen an. Musterte er mich?
Sein Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Mein Heimathafen war in Hamburg,“ sagte er und nickte. „Aber ich war auch in Bremen und Bremerhaven.“ „Oh, also bist du Seemann?“ stellte ich fest. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, sah er wirklich aus wie ein Seemann.
Das Grinsen verwandelte sich in ein herzhaftes Lachen. „Ja, ich habe vierzehn Jahre lang auf einem deutschen Containerschiff gearbeitet; oh, nein, warte, mein erstes Jahr war auf einem griechischen Schiff, und da war noch ein Jahr auf einem spanischen Schiff…“
Interessant. Sofort fühlte ich eine Welle der Neugier. Die besten Geschichten fanden immer mich, nicht umgekehrt.
Aotearoa | Auckland
OBEN: Containerschiff unter panamaischer Flagge ankert im Hafen von Auckland.
„Wie war es?“ hakte ich nach. Eine eher vage Frage. Er lachte wieder. „Ohhh, es war gut.“ Er nickte, und sein Blick schweifte ab. Dann fixierte er mich mit seinen Augen und schenkte mir ein breites Lächeln. Er nickte erneut. „Ja, es war sehr gut.“
In diesem Moment begann meine Freundschaft mit Hector. Und in den folgenden Wochen, zwischen unserer Arbeit an der Konstruktion von Metallplatten, lernte ich Hectors Geschichte kennen.
Ironischerweise hatte ich zu dieser Zeit gerade ‚Der Seemann, der die See verriet‘ von Mishima Yukio fertig gelesen, ein Geschenk eines meiner engsten Freunde. Mein Geist war bereits mit romantischen Vorstellungen über das Leben eines Seemanns erfüllt.
Exotische Orte, verrückte Abenteuer in den Häfen der Welt, interessante Charaktere – Freunde und Romanzen – sich intensiv mit diesen Fremden verbinden… und nach ein paar Tagen ist alles vorbei. Vorbei wegen des sich schließenden Zeitfensters, zurückgelassen auf dem weiten Ozean mit nur den gesammelten Erinnerungen. Erinnerungen, die so wertvoll sind wegen der Reinheit jedes Moments und der Abgeschiedenheit auf offener See.
Es gab etwas Melancholisches und zugleich Schönes in dieser romantischen Vorstellung eines Seemannslebens. Aber wie verglich es sich mit der Realität?
Als ich Hector zuhörte, wurde klar, dass seine Erfahrungen mir einen Einblick in das wirkliche Leben auf See bieten würden. Was folgte, waren Geschichten, die sogar besser als Fiktion waren.
Hier ist also die Sammlung der Kurzgeschichten, die Hector mit mir geteilt hat:
Aotearoa | Auckland
OBEN: Containerschiff vor der Skyline des CBD von Auckland.
Die erste Reise
„Wie hat dein Leben als Seemann begonnen?“ fragte ich eines Tages.
„Ohhh, als ich jung war, vielleicht zwanzig, wollte ich Mechaniker werden. Während der Ausbildung habe ich mich tatsächlich für ein Militärprogramm beworben. Man konnte eine militärische Ausbildung bei der US Navy in Kalifornien bekommen, da es eine Vereinbarung mit den Philippinen gibt.“ Hector nickte.
Dann sah er mich an: „Und ich wurde angenommen!“ Das Nicken verwandelte sich in Kopfschütteln. „Aber nein, nein, nein – ich konnte nicht gehen. Ich hatte zu viel Angst, zu den Tests zu gehen… also ließ ich es bleiben.“
„Ein bisschen später sprach mich ein Freund an. Er sagte, er könnte uns einen Job auf einem Schiff besorgen. Sie hatten es sowieso überall in der Mechanikerschule ausgeschrieben, also dachte ich: ‚Warum nicht? Die Welt sehen, reisen, das klingt gut.‘ Also sicherten wir uns den Job bei einer Reederei, und meine erste Reise war mit einem griechischen Containerschiff von Portland nach Hongkong.“
„Hattest du Angst auf deiner ersten Reise?“
„Ohhhh ja, die ersten Monate auf dem Schiff waren hart. Ich und die zwei Freunde, mit denen ich gegangen bin, hatten Heimweh. Es war das erste Mal für uns, so weit weg von den Philippinen zu sein. Und auf dem Schiff fühlt man sich einsam. Damals konnte man seine Familie nicht so leicht kontaktieren.“ Er hielt kurz inne. „Und dieses Gefühl wurde durch unseren ersten Sturm nicht besser.“
Er nickte leicht. „Es war hart. Wir waren in der Nähe des Marianengrabens. Die Wellen waren meterhoch, und das Schiff schwankte und stürzte schwer in die Wellen hinein. Obwohl es Tag war, war es dunkel wie die Nacht. Ich konnte vier Tage lang nicht schlafen, weil ich solche Angst vor einem Schiffsbruch hatte! Wir alle kannten die Geschichten.“
„Nachdem der Sturm nachgelassen hatte, wollte einer meiner Freunde nach Hause. Er hatte genug vom Seemannsleben. Der Kapitän versuchte, ihn vom Bleiben zu überzeugen, aber er wollte nicht, er wollte einfach nur weg. Der nächste Hafen kam, und er war weg. Nur ich und mein anderer Freund blieben.“
Er nickte erneut. „Es sollte nicht unser letzter Sturm sein.“
Aotearoa | Auckland
OBEN: Containerschiff bereitet sich auf die Abfahrt aus dem Hafen von Auckland vor.
Japanischer Kult
Je mehr wir sprachen, desto mehr erzählte mir Hector von den exotischen Orten, die er bereist hatte. Hier war ein Mann, der buchstäblich die sieben Weltmeere befahren, jeden Kontinent (außer der Antarktis) besucht und jede Klimazone und viele Kulturen erlebt hatte.
In unseren Gesprächen erzählte er mir, wie er den Amazonas auf einem Flussfrachtkahn hinunterfuhr und halbnackten Indigenen in ihren Kanus Essen und Zigaretten zuwarf. Er erinnerte sich an die Reisen nach Lateinamerika, die dank der Wärme und Lebensfreude der Latinos seine besten gewesen waren – einen Eindruck, den ich nachvollziehen konnte. Und er hatte Orte passiert, von denen ich noch nie gehört hatte. Wo auf der Welt sind die Midway-Inseln?
Ich wollte mehr über die Menschen erfahren, die an diesen Orten lebten, besonders in den Ländern, die ich besuchen wollte.
„Warst du schon in Japan?“ fragte ich einmal.
Hector lachte. „Ohhhh ja, ich war in Japan. Ja, das ist eine gute Geschichte.“ Er nickte leicht, eine Angewohnheit, wenn er sich an alte Zeiten erinnerte. „Wir kamen in Japan an und hatten etwas Zeit totzuschlagen, da das Schiff erst am nächsten Morgen entladen wurde. Also gingen ich und ein paar Jungs aus der Crew an Land, um zu sehen, was es in Japan zu tun gab.“
„Als wir die Rampe hinunterkamen, warteten einige schöne japanische Damen in weißen Kleidern auf uns. Sie kamen auf uns zu und wollten uns etwas zeigen. Da sie nicht wirklich Englisch sprachen und unser Englisch auch nicht das Beste war, verstanden wir nicht, was sie von uns wollten.“
Er sah mich mit einem schiefen Grinsen an. „Aber da sie schön waren, stimmten wir alle zu: ‚Ohhh, lass uns einfach mal sehen, was sie uns zeigen wollen.‘ Also gingen wir mit ihnen. Sie brachten uns zu einem Van, und wir fuhren los.“
„Wir fuhren schon eine ganze Weile durch die japanische Landschaft, als ich dachte: ‚Oh Mann, wir haben keine Ahnung, wohin sie uns bringen. Wir haben ja absolut gar nichts verstanden.‘ Es war Nachmittag, als wir an Land gingen, und jetzt wurde es bereits Abend. ‚Wir haben auch keine Ahnung, wie wir zurückkommen. Wir sind völlig in ihren Händen… und was noch schlimmer ist, die anderen Crewmitglieder wissen nicht einmal, wohin wir gegangen sind!‘“ Er kicherte.
„Es war schon Nacht, als wir an einem See ankamen. Dort warteten andere Leute in weißen Kleidern auf uns, Männer und Frauen. Wir stiegen alle aus dem Van, und sie brachten uns an das Ufer des Sees, wo eine der schönen Damen, die uns begleitet hatte, eine Art Ritual begann.“
„Wir mussten unsere Kleider ausziehen und nackt in den See steigen. Es war wie eine Art Taufe. Wir wussten nicht, was wir sonst tun sollten, weil wir völlig in ihren Händen waren, also machten wir mit. Einer nach dem anderen stieg in den See und folgte dem Ritual. Es war wirklich seltsam.“
„Dann gaben sie uns ebenfalls weiße Kleider, und wir mussten ein Dokument unterschreiben. Es war auf Japanisch, also wussten wir nicht, was darauf stand. Aber nachdem wir das Papier unterschrieben hatten, kamen wir alle zusammen und bekamen etwas zu essen.“ Er lachte. „Ich schätze, ich bin jetzt Teil ihrer Religion.“
„Nach dieser seltsamen Zeremonie fuhren sie uns zurück. Wir kamen am frühen Morgen beim Schiff an. Die anderen Crewmitglieder warteten schon auf uns, als wir mit gesenkten Köpfen die Rampe hochgingen. ‚Wo wart ihr?!‘ fragten sie uns. ‚Wir wollen nicht darüber reden,‘ sagten wir und gingen direkt in unsere Kabinen.“
„Wir haben nie wieder über das gesprochen, was in Japan passiert ist.“
Wir lachten beide.
Aotearoa | Hauraki-Golf
OBEN: Containerschiff passiert die Rangitoto Island und fährt über den Hauraki-Golf in den Pazifischen Ozean.
Piraten und Peru
Da er häufig den Suezkanal und den Golf von Aden, einen für seine somalischen Piraten berüchtigten Ort, passiert hatte, fragte ich Hector einmal, ob er tatsächlich auf seinen Reisen Piraten begegnet sei. Damals hatte Hector den Kopf geschüttelt.
„Nein,“ sagte er mir, „nicht wirklich. Eines Nachts passierten wir die Straße von Malakka, in der Nähe von Malaysia, als unser Offizier funkte, dass ein Schnellboot sich unserer Flanke näherte. Wir schalteten unsere Flutlichter ein und richteten sie auf das herannahende Boot. Sie wussten, dass wir sie bemerkt hatten, also drehten sie um und flohen.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Wahrscheinlich waren das Piraten, sie operieren in dieser Gegend. Aber wir wissen es nicht.“
Soweit so gut, keine Piratengeschichten von Hector. Nun, das dachte ich zu diesem Zeitpunkt.
Eines Nachmittags saß ich in der Cafeteria, aß zu Mittag und plauderte mit meinem Kumpel Luis, als Hector vorbeikam. Normalerweise aß er an einem Tisch mit den erfahreneren Filipinos.
„Hola amigos!“, sagte er mit seinem typischen Grinsen. Auf seinen Reisen nach Lateinamerika hatte er etwas Spanisch aufgeschnappt und ließ hin und wieder ein paar Brocken fallen. Manchmal rief er zufällige Dinge wie: „Ahhh las mujeres!“ (Ahhh, die Frauen!), „Time for café negro!“ (Zeit für schwarzen Kaffee!), „Mucha cerveza!“ (Viel Bier!). Das brachte mich immer zum Schmunzeln.
Er setzte sich, lehnte sich zurück und biss lässig in seinen Apfel, während er unserem Gespräch lauschte. Wir sprachen gerade über Südamerika. Aus dem Nichts sagte er: „Ohhh, das erinnert mich an Peru, als wir mit einer Axt ein paar Typen auf unserem Schiff verjagten.“ Sein Ton war genauso lässig wie seine Haltung.
Was zur Hölle.
„Du hast was gemacht?!“, fragte ich. Luis sah genauso verblüfft aus.
Hector grinste uns an. „Ja, es war diese Nacht in Peru. Ich und ein anderes Besatzungsmitglied hatten Wachdienst, als der zweite Offizier zu uns kam. Er war sehr nervös. ‚Leute,‘ sagte er, ‚ich glaube, da ist jemand an Deck. Wir müssen etwas dagegen tun!‘“
„‚Oh, aber was sollen wir tun?‘, hatten wir gefragt. ‚Wir müssen sie verjagen!‘, sagte der zweite Offizier. Also suchten wir nach Waffen. Die anderen nahmen ein paar Brechstangen oder so etwas und ich nahm eine Notfall-Axt. Dann gingen wir hinunter zum Deck, um zu sehen, was los war.“
„Als wir durch das Fenster der Luke in die Nacht schauten, konnten wir wirklich zwei Silhouetten sehen, die sich auf dem Deck herumschlichen. Wir hatten alle Angst, weil wir nicht wussten, wer diese Typen waren.“ Hector tat so, als würde er zittern.
„‚Wir müssen es tun,‘ hatte der zweite Offizier gesagt, ‚Bei drei öffnen wir die Luke und rennen schreiend auf sie zu!‘“
„Und das taten wir.“
„Bei drei öffnete der Offizier die Luke und wir rannten schreiend auf sie zu!“, Hector warf die Arme mit einer imaginären Axt in den Händen in die Luft. „‚Ahhhhhh!‘, hatten wir geschrien, als wir auf sie zuliefen.“
„Die beiden Silhouetten schrien auch ‚Ahhhhhh!‘ und sprangen über Bord!“, lachte Hector. „Das Schiff war mindestens drei Stockwerke hoch, also hatten sie wirklich Angst, so in den Ozean zu springen!“
„Am nächsten Tag informierten wir den Kapitän darüber, was passiert war. Er schimpfte uns alle aus, weil wir etwas so Dummes getan hatten. Es war gefährlich, sich den Eindringlingen zu nähern, weil wer weiß, wer sie hätten sein können?“
„Es stellte sich heraus, dass es zwei Peruaner waren, die versucht hatten, etwas Seil von unserem Schiff zu stehlen,“ lachte Hector, nahm einen letzten Bissen von seinem Apfel und ging davon.
Luis und ich saßen da und staunten. Also keine Piraten, aber peruanische Diebe.
Was für eine Mittagspause.
Diese drei Geschichten sind nur der Anfang von vielen Geschichten, die Hector mir im Laufe unserer Gespräche erzählte, die Spitze des Eisbergs. Da Hector so viele Abenteuer zu erzählen hatte, beschloss ich, Hector zu Hause zu besuchen und bei ein paar Bieren ein Interview zu führen.
Ich wurde nicht enttäuscht.
Geschichten über Drogenbarone in Südamerika, Kollisionen auf offener See, einen Sturm mit prekären Folgen, blinde Passagiere und Momente des Glücks.
[Fortsetzung folgt]
Aotearoa | Auckland